Pogrom und Bomben in Hamburg, Essen im Überfluss in Frankreich
Marlies B., 1921 in Hamburg geboren, spürte früh, dass ihre Eltern gegen die Nationalsozialisten (1) waren. Den Tag nach der „Reichskristallnacht“ (2) erlebte Marlies in Hamburg (Foto: historisches Rathaus) als Schock. Später wurde sie zur Wehrmachts-Telefonistin ausgebildet und in Frankreich eingesetzt. Das Leben dort waren für sie „ihre schönste Zeit“. Später heiratete sie und zog eine Tochter und eine Pflegetochter groß. Nach dem Tod ihres Mannes arbeitete sie in einem Kindergarten.
Mittelschule für Mädchen, Gymansium für die Jungen
Nach der Grundschule ging ich auf die Mittelschule, was ganz normal für Mädchen war, während meine Brüder das Gymnasium besuchten. Während meiner späteren Schulzeit – es war irgendwann vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (3) – wurde angeordnet, dass wir Schülerinnen uns jeden Montagmorgen vor Schulbeginn auf dem Schulhof zu versammeln hatten. Wir mussten den rechten Arm hoch heben und das „Horst-Wessel-Lied“ (4) singen.
Wenn wir sonntags auf dem Weg zur Kirche in St. Georg waren, kamen uns häufig singende und marschierende SS-Trupps (5) entgegen. Nie habe ich gesehen, dass meine Mutter ihre Hand zum Hitlergruß erhoben hat. Sie ist jedes Mal im nächstbesten Hauseingang verschwunden und hat sich versteckt.
Wie ich den 10. November 1938 erlebte
Ich absolvierte eine kaufmännische Lehre bei dem weltbekannten jüdischen Lederwarengeschäft Moritz Mädler am Neuen Wall in Hamburg. Am 10. November 1938 hatte ich morgens einen Termin bei einem Arzt. Anschließend ging ich ins Geschäft. Als ich aber dann den Rathausplatz überquerte, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, sah ich die unglaubliche Zerstörung. Die meisten Geschäfte waren in jüdischem Besitz. Sie waren alle verwüstet. Schaufensterpuppen und Mobiliar schwammen in den Kanälen. Der Geschäftsführer und die Angestellten hockten fassungslos in der ersten Etage im großen Kofferlager und weinten.
Bald übernahm ein neuer Geschäftsführer den Laden. Es fanden damals mehrmals Kontrollen statt, ob auch alle jüdischen Angestellten durch Arier (6) ersetzt worden seien. Danach normalisierte sich das Leben. Ich beendete meine Ausbildung und schloss sie mit „gut“ ab. Damals war ich zu jung und zu unkritisch (siebzehn Jahre alt), um die ungeheuerlichen Vorkommnisse zu hinterfragen – im Gegensatz zu dem arischen Geschäftsführer, der sich aufhängte.
Leben wie Gott in Frankreich
Nach Abschluss meiner Lehre wurde mir amtlich mitgeteilt, ich könne mich entweder bei der Wehrmacht melden, um als Telefonistin für den Auslandseinsatz ausgebildet zu werden, oder ich möge in der Pulverfabrik bei Reinbek (7) eine Arbeit aufnehmen. Bis dahin wussen wir gar nichts von der Fabrik, die Pulver für Waffen und Raketen herstellte. Kurz entschlossen entschied meine Mutter: „Das kommt überhaupt nicht in Frage, in die (Schießpulver-)Fabrik gehst du auf keinen Fall.“
Ins Ausland wollte sie mich auch nicht gehen lassen. Es gab aber keinen anderen Weg, und ich begann eine dreimonatige Ausbildung zur Telefonistin in Wilhelmshaven. Der Grund dafür war, dass glücklicherweise mein Vater einen Cousin hatte, der wiederum einen Freund hatte. Und dieser Freund war Fregattenoffizier und leitete in Bordeaux eine Außenstelle der Marine. Dorthin wurde ich zusammen mit vier weiteren Mädchen, die ich selber aussuchen durfte, geschickt.
Wir arbeiteten zwar in der Telefonzentrale, fühlten uns aber wie „Gott in Frankreich“. Rückblickend muss ich sagen, dass dieses Jahr das schönste meiner Jugend war. Wir wohnten in einem eigenen Haus mit Personal. Etienne hieß die junge Frau, die für uns sorgte, putzte und unsere Wäsche in Ordnung hielt. Für uns gab es Essen im Überfluss. Anfangs stopfte ich alles in mich hinein, bis mir schlecht wurde.
Im Gegensatz zu unserem Überfluss musste die französische Bevölkerung schon hungern. Deshalb versorgten wir die Franzosen, die für uns arbeiteten, mit Nahrungsmitteln. Etiennes Verlobter war übrigens in deutscher Kriegsgefangenschaft. Sie hat von uns aber erhalten, was sie brauchte.
Am meisten genoss ich die rauschenden Bordfeste, zu denen wir immer eingeladen wurden. Es war herrlich. Wir wurden umworben und tanzten bis in den frühen Morgen.
Ausgebombt und heißes Mauerwerk
Als es in Frankreich für uns brenzlig wurde, konnte ich mit Hilfe von Beziehungen nach Hamburg zurückkehren.
In einer Nacht des Jahres 1943 wurde ich und meine Familie ausgebombt. Die Häuser der geamten Straße, vier- oder fünfstöckige Gebäude, wurden von Phosphorbomben (8) getroffen und verwandelten sich augenblicklich in Schutthaufen. Die Häuser des ganzen Viertels wurden dem Erdboden gleich gemacht, allein die Kirche blieb stehen.
Nachdem die Häuser bombardiert worden waren, rannten die Menschen in Panik auf die Straße. Auf einen Schlag hatten sie alles verloren. Jetzt rannten sie um ihr Leben. Viele hatten sich Klamotten über den Kopf gezogen, damit die Haare nicht zu brennen anfingen. Selbst der Asphalt brannte. Viele Menschen sprangen so wie sie waren in die Kanäle, um sich vor dem Feuer zu retten.
Wir waren zum großen Spielplatz gerannt, wo wir auch die Nacht verbrachten. Von dort wurden wir zur Hafenanlage gebracht. Hier bestiegen wir Schuten (9), die uns nach Uelzen (10) transportierten. Die darauf folgende Nacht verbrachten wir wieder wartend im Freien. Schließlich führte man uns zum Bahnhof und verfrachtete uns in uralte, klapprige Züge. Unsere Zielvorstellungen waren entweder Bergedorf oder Reinbek, aber angekommen sind wir in Schlesien.
Keinen Koffer, aber einen Stahlhelm
Als wir im Zug saßen, bin ich endgültig ausgerastet. Mir fiel plötzlich auf, dass mein Vater immer noch seinen alten Stahlhelm trug. Ich wurde so wütend, denn wir hatten nichts gerettet, nicht einmal einen Koffer, nur diesen hässlichen Stahlhelm. Fast schrie ich meinen Vater an: „Papi, nimm endlich den Stahlhelm ab, ich kann ihn nicht mehr ertragen.“
Sechs Wochen nach dem verheerenden Bombenanschlag auf unser Viertel in Hamburg kehrten wir in unsere Straße zurück. In den Keller unseres früheren Hauses konnte man noch gehen. Aber noch immer glühte das Mauerwerk vor Hitze. Da standen unsere Koffer. Wir hoben sie hoch, und in diesem Moment fielen sie auseinander. Wir hielten nur noch die Griffe in der Hand. Mein Verlobter brannte sich beim Aufenthalt im Keller ein Loch in die dicke Sohle seines Stiefels, so heiß war der Boden immer noch.
(1) Der Nationalsozialismus ist eine radikal antisemitische, rassistische, nationalistische (chauvinistische), völkische, sozialdarwinistische, antikommunistische, antiliberale und antidemokratische Ideologie. Seine Wurzeln hat er in der völkischen Bewegung, die sich etwa zu Beginn der 1880er Jahre im deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn entwickelte. Ab 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde er zu einer eigenständigen politischen Bewegung im deutschsprachigen Raum.
(2) Die November-Pogrome 1938 - bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, auch Reichskristallnacht oder Kristallnacht, Jahrzehnte später Reichspogromnacht genannt, waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich.
(3) Als Zweiter Weltkrieg wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.
(4) Das Horst-Wessel-Lied ist ein politisches Lied, das zunächst (ab etwa 1929) ein Kampflied der SA war und etwas später zur Parteihymne der NSDAP avancierte. Es trägt den Namen des SA-Mannes Horst Wessel, der den Text zu einem nicht genau geklärten Zeitpunkt zwischen 1927 und 1929 auf eine vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammende Melodie verfasste. Nach der Machtübernahme der NSDAP fungierte das Lied de facto als zweite Nationalhymne. Das Lied wurde nach 1945 nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg durch den Alliierten Kontrollrat verboten bis heute.
Quelle: wikipedia
(5) Die SS (Schutzstaffel) wurde am 4. April 1925 von Hitler als persönliche „Leib- und Prügelgarde“ in München gegründet. Sie unterstand ab dem Reichsparteitag 1926 der Sturmabteilung (SA), übte ab 1930 zugleich aber den parteiinternen „Polizeidienst“ aus. Entscheidend geformt und geprägt wurde sie durch Heinrich Himmler.
Quelle: wikipedia
(6) Der Arier-Nachweis war im nationalsozialistischen Deutschland von 1933 – 1945 für bestimmte Personengruppen... ein von Staats- und Regierungsbehörden geforderter Nachweis (beglaubigte Ahnentafel) einer „rein arischen Abstammung“ aus der arischen Völkergemeinschaft … Damit begann die Ausgrenzung von „Nichtariern“, vor allem Juden und „Zigeunern“, die über die Aberkennung ihrer Bürgerrechte und Ausgrenzung bis zur Vertreibung, Ghettoisierung, Deportation und staatlich organisierten Massenermordung in Konzentrationslagern (Holocaust und Porajmos) führte. Dagegen galt ein Engländer oder Schwede, ein Franzose oder Tscheche, ein Pole oder Italiener … als verwandt, also als arisch.
Quelle: wikipedia
(7) Reinbek liegt im östlichen Ballungsraum Hamburgs und gehört zur Metropolregion Hamburg.
Quelle: wikipedia
(8) Eine Phosphorbombe enthält ein Gemisch aus weißem Phosphor und Kautschuk und wird als Brandbombe und als Nebelkampfstoff eingesetzt. Weißer Phosphor ist die reaktivtste Modifikation als Phosphor. Er entzündet sich allein über den Kontakt mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff (pyrophor) und brennt dann mit einer 1.300 Grad Celsius heißen Flamme unter starker Entwicklung von weißem Rauch (Phosphoroentoxid), der in größeren Mengen gesundheitsschädlich ist. … Neben der Brandwirkung und den schwer heilenden Verletzungen, die ein Hautkontakt schon bei geringen Mengen verursacht, sind Phosphor und seine Dämpfe hochgiftig …
Quelle: wikipedia
(9) Schuten sind zum Tansport von Schüttgut oder Menschen benutzte offene Wasserfahrzeuge in der Binnenschifffahrt.
Quelle: wikipedia
10 Die Hansestadt Uelzen ist die Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises im Nordosten Niedersachsens und Teil der Metropolregion Hamburg.
Quelle: wikipedia
Auszug aus: Scherbenbilder „Der Boden blieb heiß“, Erzählung von Marlies B., gesprochen mit Hanne K., bearbeitet von Barbara H.
Foto: LoboStudio Hamburg
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