In der DDR schikaniert, aber: „Ich denunziere niemanden!“
Renate B. (1933-2019) wuchs im Erzgebirge in einer pietistischen Pfarrersfamilie auf, absolvierte 1952 in der DDR ihr Abitur unter erschwerten Bedingungen und wollte Medizin studieren. Als Pfarrerstochter aber wurde ihr ein Studium im Osten verwehrt. 1955 gelang es ihr, einen Platz an der MTA-Schule in Westberlin zu bekommen. So führte sie ein Leben im Westen, blieb aber mit der Familie in Kontakt. In den 80er Jahren lernte sie ihren zweiten Ehemann Rolf kennen.
Das Leben als „Staatsflüchtling“
In den 50er Jahren konnte man in Berlin die DDR noch verlassen, es gab noch keine Mauer. Doch an der Haltestelle Friedrichstraße wurde der ganze Zug angehalten, und alle Passagiere wurden von der Volkspolizei kontrolliert. Der Ausweis und der Inhalt des Gepäcks mussten gezeigt werden. Ich galt damals ja als „Republikflüchtling“ und wurde, genauso wie meine Eltern, von der Stasi observiert. So wurden meine Eltern gelegentlich (scheinheilig) gefragt: „Wo ist denn ihre Tochter? Die haben wir lange nicht gesehen.“ In Wirklichkeit wusste man genau, wo ich war und dass ich jetzt „Staatsflüchtling“ war.
Mein Vater wurde deshalb zur Polizei einbestellt. Er nahm zu diesem Termin alle meine Ablehnungsbescheide mit, die ich vorausschauend gesammelt und meinem Vater gegeben hatte. Er legte die Dokumente vor und sagt: „Meine Tochter wollte in der DDR bleiben, aber man hat ihr hier drei Jahre lang keinen Studienplatz zugewiesen. Sie will unbedingt Medizin studieren; das ist ihr Lebenstraum, deshalb ist sie zum Studium in den Westen gegangen.“
Diese Erklärung nahm man so hin, aber sie brachte meinem Vater einen entsprechenden Eintrag in die Stasi-Akte.
In den Westen – und von der Familie abgeschnitten
Es gab in der DDR überall Schikanen. Ich bin sicher, dass mein Vater und mein Bruder abgehört wurden. Später kam heraus, dass der Pflegesohn meines Bruders der Stasi-Spitzel gewesen war.
Mit meiner Übersiedlung in den Westen war ich total von meiner Familie abgeschnitten. Meine Eltern durften nicht nach Westberlin und ich nicht nach Ostberlin. Wir haben uns manchmal heimlich in Ostberlin getroffen, aber das war sehr gefährlich, und mein Vater hatte Angst, denn nicht nur ich, sondern auch mein Bruder J. war seit 1952 im Westen. Er studierte in Karlsruhe Architektur, weil er wie ich in der DDR keinen entsprechenden Studienplatz bekommen hatte.
Ärger beim Einkauf im Osten: „Volkseigenes Material“ geschmuggelt?
Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, welche Schwierigkeiten es in der DDR gab. Ein Beispiel kann ich noch erzählen. Für die Laborarbeiten mussten wir MTA-Schülerinnen eigenes Material mitbringen, z. B. Objektträger, Pipetten u. a., was sehr ins Geld ging. Meine 20 Mark, die mir monatlich zur Verfügung standen, reichten dafür kaum.
Irgendjemand berichtete, dass die Labormaterialien im Osten viel billiger seien. Man bat mich, nach Ostberlin zu fahren und diese Dinge in einem speziellen Laborgeschäft in der Nähe der Friedrichstraße zu besorgen.
Trotz meiner Angst, erwischt zu werden, nahm ich Bestellungen meiner Mitschülerinnen an und fuhr nach Ostberlin, tauschte West- in Ostmark und machte meine Einkäufe. Als ich an der Friedrichstraße in den Zug stieg, kam prompt ein Volkspolizist als Kontrolleur, dem ich meinen Ausweis zeigen musste. Meine Einkaufstasche hatte ich hinter meinen Füßen unter der Sitzbank so gut es ging versteckt, aber sie wurde entdeckt.
Ich musste die Tasche öffnen und die Einkäufe zeigen. Mir war es furchtbar peinlich, und ich versuchte, zu erklären, warum ich diese Laborutensilien im Osten eingekauft hatte. Aber es nützte
nichts.
Ich musste zusammen mit drei Polizisten in die „grüne Minna“ steigen, die mich zum Alexanderplatz brachte. Da war mir klar, das meine Begleiter Stasi-Mitarbeiter waren. Man ließ mich lange warten, und dann wurde ich verhört. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte „volkseigenes Material“ ins „Ausland“ (Westberlin) schmuggeln wollen. Darauf stand Gefängnis. Mir wurde angst und bange, obwohl einer der drei verhörenden Beamten etwas Mitleid mit mir zu haben schien.
Stasi-Mitarbeiterin werden und Dozenten bespitzeln?
Nach einer Beratung kamen die Beamten zurück und schlugen mir vor, Stasi-Mitarbeiter zu werden und bestimmte Dozenten und Professoren und auch Mitstudenten an meiner
Fachschule zu bespitzeln. Man nannte mir meinen Spitznamen und den Spitznamen meines künftigen Kontaktmannes, den ich in Ostberlin treffen könnte, um zu berichten, sowie den Ort des sogenannten „Toten Briefkastens“, den ich für meine Beobachtungen benutzen sollte. Ich wurde aufgefordert, ein entsprechendes Dokument zu unterschreiben. Dann hätte ich zurück nach Westberlin in das Studentenheim fahren können.
Rolf: Zu der Zeit sind vor allem nicht nur in Westberlin, sondern auch in den angrenzenden westlichen europäischen Nachbarländern immer wieder ehemalige DDR-Bürger und Stasi-Mitarbeiter durch Giftspritzen umgebracht worden. In Westberlin und Mitteleuropa wimmelte es von Ost-Spionen. Man konnte keinesfalls sicher vor ihnen sein.
Ich habe das Dokument nicht unterschrieben.
Ich sagte zum Erstaunen der Beamten: „Wie Sie sicher wissen, bin ich die Tochter eines Pfarrers und überzeugte Christin. Ich denunziere niemanden. Ich bin dazu erzogen worden, niemanden zu verleumden oder falsches Zeugnis abzulegen.“
Da waren die Beamten erst einmal ratlos, so etwas hatten sie wohl nur selten erlebt. Sie zogen sich wieder zur Beratung zurück und ließen mich stundenlang in einem verschlossenen Raum sitzen.
Ich habe mittlerweile zahlreiche Menschen gefragt, was sie in meiner Situation getan hätten. Fast alle haben gesagt, sie hätten unterschrieben, dann aber die Stasi-Mitarbeit im Westen verweigert.
Als die Beamten wieder zurückkamen, machten sie mir einen anderen Vorschlag: Ich sollte mich verpflichten, nach meinem Staatsexamen in die DDR zurückzukommen und meine Arbeitskraft dem „Volk in der DDR“ zur Verfügung zu stellen. Obwohl mir dieser Vorschlag auch nicht gefiel, unterschrieb ich, denn es würde ja noch mindestens zwei Jahre bis zum Examen dauern und wer weiß, was in dieser Zeit alles passieren würde.
Nachdem ich unterschrieben hatte, durfte ich, nun jedoch ohne meine Einkäufe, zurück nach Westberlin fahren, wo man mich im Studentenwohnheim schon vermisst hatte.
Seitdem habe ich nicht mehr gewagt, nach Ostberlin zu fahren. Nicht einmal war ich in der Nähe der Grenze, geschweige denn auf der DDR-Seite. Ich habe auch nicht mehr nach Hause telefoniert, denn ich wusste inzwischen, dass das Telefon dort abgehört wurde. Briefe konnte man schreiben, aber viele Passagen wurden einfach geschwärzt, weil es in der DDR kein Briefgeheimnis gab. Meine Eltern, meine Brüder, Nichten und Neffen habe ich viele Jahre nicht mehr gesehen. Das war für mich hart, besonders der Verzicht auf den Kontakt mit meiner Mutter, zu der ich immer eine besonders starke Bindung hatte.
An der Grenze: Auto nach Flüchtling durchsucht
Rolf: Das Leben drüben in der DDR war überhaupt sehr schwer. Ich war vor 1989 mehrmals drüben und kann mich an sehr unangenehme Situationen erinnern. Einmal fuhren wir mit einem mit Geschenken voll beladenen Auto hin und kamen mit einem leeren Fahrzeug zurück an die Grenze. Man forderte mich auf, die hinteren Sitze auszubauen. Als ich mich weigerte, sprangen und tobten die Grenzbeamten auf den Sitzen herum, wahrscheinlich um zu prüfen, ob dort ein Republikflüchtling versteckt war.
Ich war empört und wollte die Dienstnummer der Grenzbeamten wissen, was natürlich abgelehnt wurde. Plötzlich kam der Vorgesetzte der Beamten dazu und fragte, was da los sei. Er hielt unsere Pässe erstaunlicherweise in den Händen, die man sich sonst immer nach Aufruf am Schalter abholen musste. Ich erklärte die Situation und meldete wegen eventueller Beschädigungen einen Regressanspruch an. Daraufhin durften wir weiterfahren, natürlich nur unter Verzicht der Dienstnummer des Grenzbeamten.
Doch waren wir froh, dass das lange Warten – meistens ein bis zwei Stunden, gelegentlich auch länger – zu Ende war.
Pfarrerskinder mit Westverwandtschaft: Keine Chance auf Oberschule
Meine sechs Neffen und Nichten hatten in der DDR alle ihre Schwierigkeiten. Von Oybin war die
Familie nach Glashütte gezogen, wo die Kinder zur Schule gingen. Nach der 10. Klasse wurden damals die Kinder ausgewählt, die anschließend die erweiterte Oberschule besuchen durften. Von allen meinen Neffen und Nichten durfte keiner auf die erweiterte Oberschule gehen, obwohl sie das
„Zeug“ dafür und z. T. sehr gute Noten hatten. Vielleicht lag der Grund darin, dass sie alle weder bei den Pionieren noch bei der FDJ Mitglied und dazu noch Kinder eines Pfarrers waren.
Meine Nichte K. war sehr sportlich und so erfolgreich im Eisschnelllauf, dass sie für eine Olympiade trainiert werden sollte. Dazu hätte sie aber auf ein Sportgymnasium nach Chemnitz gehen müssen. Sie wurde mit ihrem Vater, meinem Bruder, dorthin einbestellt, und der Vater wurde
gefragt, ob er Westverwandte habe. Als er dann zugab, eine Schwester und einen Bruder im Westen zu haben, wurde meiner Nichte die Aufnahme in das Sportgymnasium verweigert. Das war das Ende ihrer Eisschnelllaufkarriere.
Meine älteste Nichte C. und die zweitälteste Nichte A. haben mit Hilfe meines Vaters und seiner guten Beziehungen zu den Diakonissen des Mutterhauses in Elbingerode (die Arbeitsstätte meines Vaters) eine Lehrstelle als Krankenschwester bekommen. Die dritte Nichte D. wurde, obwohl sie künstlerisch sehr begabt war, Drechslerin.
Die vierte Nichte B. wurde Lehrling für Obst- und Gemüseanbau. M, das fünfte Kind der Familie, wurde Lehrling in einer Schafzuchtanlage. K., die Jüngste, wollte, nachdem ihr Sporttraum geplatzt war, Diätassistentin werden, was aber nicht gelang. Auch sie ging zu den Diakonissen und wurde Köchin.
Nach der Wende haben sich mein Neffe und meine Nichten beruflich neu orientiert; fast alle haben ein Haus gebaut und Familien gegründet.
Für die Liebe im Osten geblieben
Mein anderer Bruder G. wollte ebenfalls in der DDR Maschinenbau studieren, nachdem er Autoschlosser gelernt hatte. Er war ein großer Autofan. Da er auch keinen Studienplatz bekam, liebäugelte er mit der Übersiedlung nach Hannover, um dort an der TH Maschinenbau zu studieren. Aber er lernte vorher seine große Liebe kennen, die dann auch schnell schwanger wurde. Sie wollte auf keinen Fall in den Westen.
Ihr zuliebe blieb G. dann in seiner Heimat und studierte auf Anraten meines Vaters Theologie an der Theologischen Hochschule in Halle. Als er das Studium beendet hatte, war er Vater von drei Kindern.
Zeitweise lebte meine Schwägerin in unserer Familie oder auch zeitweise in ihrer eigenen Familie in Dresden. Die Kinder besuchten schon mit einem Jahr eine kostenlose Kita, so dass meine Schwägerin bald auch wieder als Technische Assistentin in einem Labor arbeiten konnte. Mein Bruder kam dann immer nur zum Wochenende zu Besuch. Da er schon Familienvater war, brauchte er kein Vikariat zu machen, sondern bekam gleich nach dem zweiten Pfarrexamen eine Pfarrstelle in Oybin, eine Gemeinde im Landkreis Görlitz an der Grenze zur tschechischen Republik (und nahe der polnischen Grenze).
Zu den drei Kindern kamen im Laufe der Zeit drei weitere hinzu. Als Vater von sechs Kindern verdiente er damals nur 500 Ostmark. Seine Frau musste dazuverdienen.
Jüngster Bruder wird Ingenieur – dank der Feuerwehr
Mein jüngster Bruder G. bekam wie seine Geschwister keinen Studienplatz. Er bemühte sich aber auch nicht lange, sondern fing als Lehrling in einem volkseigenen Getriebewerk an, arbeitete sich nach oben, machte seinen Meister und wurde von seinem Chef gefragt, ob er nicht in Magdeburg
ein Betriebsstudium absolvieren wollte. Also machte mein Bruder ein Fernstudium an der Technischen Universität Magdeburg. Nach fünf Jahren war er Diplomingenieur.
Rolf: G. hat das geschafft, obwohl er niemals in der SED war, denn er war immer in der Betriebsfeuerwehr und auch in der örtlichen „Freiwilligen Feuerwehr“ aktiv. Durch diesen Einsatz hatte er sein Engagement für den sozialistischen Staat genügend dokumentiert. Er hatte sogar die
Oberbrandmeisterprüfung abgelegt.
Auszug aus „Lebensglück mit Dornenstellen“, erzählt von Renate B. und Rolf-Rainer H., aufgeschrieben von Rosi A., Auszug bearbeitet von Achim K.
Foto: DetBe/Pixabay
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