“Ich fühlte mich wie Gott in Frankreich“
Marlies B. wird 1921 in Hamburg geboren und verlebt dort mit ihren zwei Brüdern eine unbeschwerte Kindheit in einem Geschäftshaushalt. Nach der Schulzeit absolviert sie das Pflichtjahr (1) und beginnt anschließend eine Lehre in einem weltbekannten Ledergeschäft. Als Telefonistin bei der Wehrmacht verbringt sie ein beschwingtes Jahr in Bordeaux, bis englische Truppen die französische Küste erreichen und sie in die Heimat zurückkehrt.
Auf der Suche nach dem richtigen Beruf
Eigentlich wollte ich immer Erzieherin werden. Weil das nicht klappte, entschied ich mich für eine kaufmännische Lehre bei einem weltbekannten Lederwarengeschäft. Die Mädler-Passage in Leipzig erinnert übrigens noch heute an diese Firma.
Der 10. November 1938
An diesem Tag (2) hatte ich morgens einen Arzttermin. Anschließend ging ich ins Geschäft. Als ich aber dann den Rathaus Platz überquerte, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, sah ich die unglaubliche Zerstörung. Die meisten Geschäfte dort waren in jüdischem Besitz. Schaufensterpuppen und Mobiliar schwammen in den Fleeten. Der Geschäftsführer und die Angestellten hockten fassungslos in der 1. Etage im großen Kofferlager und weinten.
Bald übernahm ein neuer Geschäftsführer den Laden. Es fanden mehrmals Kontrollen statt, ob auch alle jüdischen Angestellten durch Arier ersetzt worden waren. Danach normalisierte sich das Leben.
Ich beendete meine Ausbildung und schloss sie mit „Gut“ ab. Damals war ich zu jung und zu unkritisch, um die ungeheuerlichen Vorkommnisse zu hinterfragen; im Gegensatz zu dem arischen Geschäftsführer, der sich später umbrachte.
Arbeit bei der Wehrmacht
Nach Abschluss meiner Lehre wurde mir amtlich mitgeteilt, ich könne mich bei der Wehrmacht melden, um entweder als Telefonistin für den Auslandsdienst ausgebildet zu werden, oder ich möge in der Pulverfabrik bei Reinbek eine Arbeit aufnehmen. Kurz entschlossen entschied meine Mutter: “Das kommt überhaupt nicht in Frage, in die Fabrik gehst du auf keinen Fall!“
Ins Ausland wollte sie mich aber auch nicht gehen lassen. Es gab aber keinen anderen Weg, und so begann ich eine dreimonatige Ausbildung zur Telefonistin in Wilhelmshaven.
„Leben wie Gott in Frankreich“
Über private Kontakte wurde ich zur Außenstelle der Marine nach Bordeaux/Frankreich geschickt, zusammen mit vier weiteren Mädchen, die ich selber aussuchen durfte. Wir arbeiteten zwar in der Telefonzentrale, fühlten uns aber „wie Gott in Frankreich“.
Rückblickend muss ich sagen, dass dieses Jahr das schönste meines Lebens war. In diesem Jahr konnte ich meine Jugend richtig genießen. Während viele andere Mädels in großen Hotels im Bordeaux wohnten, hatte man uns in einem kleinen Ort in der Nähe untergebracht. Wir wohnten in einem eigenen Haus mit Personal, das für uns sorgte, putzte und unsere Wäsche in Ordnung hielt.
Es gab für uns hier Essen im Überfluss, Essen, das wir gar nicht kannten. Anfangs stopfte ich alles in mich hinein, bis mir schlecht wurde. Im Gegensatz zu uns litt die französische Bevölkerung an Hunger, und so versorgten wir die Franzosen, die für uns arbeiteten, mit Lebensmitteln.
Für uns war das Leben herrlich. Zum Einkaufen fuhren wir nach Bordeaux. Ich besorgte schöne Stoffe und Hutkrempen für meine ehemaligen Kolleginnen, denn damals trug man noch Hut.
In Bassence gab es eine kleine Marinekaserne und eine Werft, auf der die Schiffe für den Kriegseinsatz instandgesetzt wurden. Am meisten habe ich die rauschenden Bordfeste genossen, zu denen wir immer eingeladen wurden. Es war herrlich, wir wurden umworben und tanzten bis in den frühen Morgen.
Das beschwingte Leben endete für mich abrupt, als die englischen Truppen die französische Küste erreichten. Jetzt wurde es plötzlich brenzlig. Mit Hilfe von Beziehungen schaffte ich es zurück nach Hause, genau nach einem Jahr.
Da ich nach wie vor bei der Marine dienstverpflichtet war, wurde mir in der Telefonzentrale auf Tollerot ein Arbeitsplatz zugewiesen. In dieser Zeit habe ich auch meinen späteren Ehemann kennengelernt.
(1) Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes. Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.
Die Mädchen und Frauen sollten so auf ihre zukünftigen Rollen als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Darüber hinaus konnte so in vielen Haushalten die fehlende Arbeitskraft der Männer, die als Soldaten im Krieg waren, kompensiert werden. Ausgenommen waren Frauen mit Kindern und Frauen, die ohnehin in diesen Bereichen arbeiteten. Ohne den Nachweis über das abgeleistete Pflichtjahr konnte keine Lehre oder anderweitige Ausbildung begonnen werden.
(2) Die November-Pogrome 1938 - bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, auch Reichskristallnacht oder Kristallnacht, Jahrzehnte später Reichspogromnacht genannt - waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich.
Auszug aus "Lebenserinnerungen", erzählt von Marlies B., geschrieben von Hanne K., Auszug verfasst von Marion PK
Foto: Tomasz Mikołajczyk/Pixabay
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