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Hannelore – Endlich im neuen Leben angekommen

  • Writer: Achim Kaemmerer
    Achim Kaemmerer
  • Apr 6
  • 5 min read

Updated: 4 days ago

Hannelore ist ein Düsseldorfer Mädchen, geboren 1933 in Flingern. Nach einer abgebrochenen Lehre als Schneiderin arbeitete sie in Büros, in einem Schreibwarengeschäft und als Reinigungskraft. Geheiratet wurde 1953. Ende der Fünfziger begann Hannelore mit einer Tätigkeit, die ihr ganzes Leben und das ihrer Familie verändern sollte.


Hannelore und ihre Schwiegermutter


Nach der Zeit der Kinderlandverschickung in Oberschlesien kehrt Hannelore in ihre alte Heimat Düsseldorf zurück.


Schwarze Zeiten

Es waren buchstäblich schwarze Zeiten. Man hat schwarz geschlachtet, wir haben schon als Kinder schwarz gebuttert und nach dem Krieg musste man, wenn man überleben wollte, auf den Schwarzmarkt gehen. Ich auch! Obwohl ich fast noch ein Kind war, war es für meine Mutter und mich überlebenswichtig, Dinge des täglichen Lebens auf dem Schwarzmarkt zu „erwerben“.

Mutter und ich wohnten nach dem Krieg auf der Roßstraße. Sie war zu dieser Zeit mit einem Mann liiert, der bei der Eisenbahn arbeitete. Von dort brachte er auch Kohlen mit. Das ersparte mir, Kohlen klauen zu gehen wie die anderen Kinder. Ich ging nach der Schule zum Dreieck, da war der Schwarzmarkt, und verscherbelte die Kohlen und Briketts für Zigaretten. Das war direkt nach dem Krieg, also vor der Währungsreform, so ziemlich die einzige Währung für die man etwas bekam. Meine Mutter tauschte dann die Zigaretten in Brot, Butter, Margarine und was es sonst noch so gab. Viel war das nicht, und deswegen fuhren viele, obwohl es, genau wie der Schwarzmarkthandel, streng verboten war, zum Hamstern aufs Land.

Das Kohlentauschen hatte ein Ende als die Ehefrau des Eisenbahners aus Sachsen zurückkehrte. Eines Abends saßen wir in unserem Zimmerchen, und meine Mutter hatte irgendwo ein ovales Döschen Leberwurst aufgetrieben. Es wurde immer akkurat an jeder Ecke hier und da ein bisschen Wurst entnommen und ganz dünn aufs Brot gestrichen. Nach dem Essen ging meine Mutter fort ohne den Tisch abzudecken, und ich machte mich über die Leberwurst her. Ich schnitt genau an den Ecken ab, wie vorher auch. Die Form blieb die gleiche, nur wurde sie immer kleiner. Als Mutter wieder kam, fragte sie: „Warst du an der Leberwurst?“ – „Nein!“ antwortete ich, „die Form ist doch immer noch die gleiche!“ Da gab es ein ganz schönes Theater, nicht weil ich von der Wurst genascht hatte, sondern weil ich meine Mutter belogen hatte.

Meine Mutter aber ging richtig auf Hamstertour. Wenn es ganz schlecht war, fuhren wir zu ihrer Schwester nach Olsberg. Mutter hatte sich auf ihren Hüfthalter kleine Taschen genäht, und wenn sie niemand beobachtete schlich sie sich in die Kühlkammer und schnitt mit einem ebenfalls versteckten Messer, schnell ein paar Scheiben von dem geräucherten Speck ab, der dort hing, und verbarg ihn in den Taschen. Die Tante freute sich nicht unbedingt, die hungrigen Verwandten aus Düsseldorf zu sehen, wurden wir doch immer mit: „Mariechen! Mariechen! Kartoffeln haben wir selbst keine!“ begrüßt.

Kartoffeln waren in der Zeit bei uns sowieso sehr begehrt. Mein Sauerländer Großvater erzählte uns Kindern immer, Kartoffeln würden dumm machen. Da wir alle nicht dumm werden wollten, gaben wir unsere Kartoffeln gern an ihn weiter. Er hatte auch keine Hemmungen sie alle aufzuessen,  wir schoben weiterhin Kohldampf.


Christi Hilf

An die genauen Umstände kann ich mich nicht mehr erinnern, aber irgendwann kurz nach Kriegsende hieß es, dass meine Mutter ins Krankenhaus müsste. Da ich nicht alleine bleiben könne, sollte ich für vier Wochen in das Kinderheim Christi Hilf auf der Flurstraße in Flingern. Aus den vier Wochen wurden eineinhalb Jahre und die eigentliche  Begründung waren die „familiären Verhältnisse“, unter denen ich aufwuchs. Angeblich führte meine Mutter ein, für damalige Vorstellungen, „flatterhaftes Leben“.

Das Kinderheim wurde von katholischen Nonnen geführt und es lebten Kinder aus unterschiedlichen Gründen dort. Die einen waren Kriegswaisen, die anderen „schwer erziehbar“ und dann noch solche Kinder wie ich, die eigentlich gar nicht wussten, warum sie im Heim lebten.

Ich war es mittlerweile ja schon gewöhnt herumgereicht zu werden und mich an die gegebenen Umstände anzupassen. Also versuchte ich das Beste 

daraus zu machen. Ich war so unauffällig wie möglich, und versuchte es allen recht zu machen. Trotz der traurigen Umstände war es auch eine schöne Zeit.

Besonders stolz war ich, als ich zu Heilig Abend beim Krippenspiel die Muttergottes spielen durfte. Das war eine besondere Auszeichnung. Nach der Vorstellung kam eine der Nonnen lächelnd zu mir und sagte, sie hätte eine große Überraschung für mich. Und plötzlich war meine Mutter mit meinem kleinen Bruder da. Mein Bruder ist ein „Währungsreformkind“, denn er wurde genau am Tage der Währungsreform, am 21. Juni 1948, geboren. Ich durfte an dem Tag das Heim für immer verlassen und mit ihnen nach Hause gehen.


Vom Schneidern

Aus welchen Gründen auch immer, durfte ich aber nicht bei meiner Mutter und meinem kleinen Bruder leben. Von nun an wohnte ich also bei meiner Tante Maria, einer Schwester meines Vaters.

Im Jahr 1949 begann ich mit einer Lehre als Schneiderin in einem Familienbetrieb in Flingern. Während der Lehre verdiente ich 25,- DM. Von dem Geld musste ich 20,-DM bei meiner Tante als Kostgeld abgeben, also blieben mir im Monat noch 5,- DM Taschengeld. Davon kaufte ich mir Stoff, um mir einen Rock zu nähen. In einem Geschäft sah ich einen Pullover, den ich auf Ratenzahlung kaufte. Was ich aber unbedingt haben musste, waren die Nylonstrümpfe, die in einem Schaufenster auslagen. Leichtsinn siegte, und ich kaufte sie mir. An das Theater, das meine Tante machte, kann ich mich noch heute erinnern.


Ein Tanz und seine Folgen

Mit ca.16 oder 17 Jahren kam auch die Zeit in der ich gerne ausging. Ein Kinobesuch war für mich zu teuer. Eine Freundin lud mich hin und wieder mal ins Kino ein. Meine ersten Filme waren „Die große Liebe“ mit Zahra Leander, und „Der weiße Schnee“ ein Revuefilm.

Da für Kinobesuche mein Geld nicht reichte, entwickelte ich eine Leidenschaft fürs Tanzen. Das war wegen meines Alters ein bisschen problematisch, denn in ein Tanzlokal durfte man damals erst mit 18 Jahren. Es wurden zwar keine Ausweise kontrolliert, wenn aber eine Razzia kam, mussten wir durchs Toilettenfenster hinten wieder raus.

Auch das Schminken war ein Problem. Meine Tante hätte mir nie erlaubt so angemalt das Haus zu verlassen, also schminkte ich mich heimlich im Hausflur.

Es war, wie für alle jungen Menschen in unserem Alter, eine schwere Zeit. Man war jung und verliebt, hatte den Kopf voller verrückter Ideen und durfte trotzdem nicht so wie man wollte.

Häufig ging ich ins „Engels“ am Dorotheenplatz in Grafenberg, eines der einschlägigen Tanzlokale zu dieser Zeit..

Mein Schicksal aber war ein Abend im „Fleher Hof“.



Foto: Schürmann & Lorbach GmbH


Dort spielte die Kapelle „Heinz Kretschmar“. Das war eine zwölf Mann starke Big Band und die haben alles gespielt, was damals so in war.

Dort habe ich beim Tanzen meinen Mann Fred kennen gelernt. Er fiel mir sofort auf, was mit seinen 1.86 m auch gar nicht so schwer war, machte er doch mit seinem kleinkariertem Sakko und dem Samtrevers einen sehr amerikanisierten Eindruck. Außerdem hatte er genau das bisschen Arroganz, was Frauen bei einem Mann magisch anzieht. Das ging nicht nur mir so, war er an diesem Abend doch mit einer seiner damals zahlreichen Freundinnen da.

An diesem Abend hatte ich ein schwarzes Kleid an, und trug darunter einen Unterrock von der Firma Blyle. Die waren von der einen Seite glatt und von der anderen leicht angeraut. Dieser Fred und ich tanzen Boogie Woogie. Vom vielen Tanzen waren unsere Hände ganz verschwitzt und ich rutschte Fred aus der Hand und landete mit hochgeschlagenem Rock auf der Tanzfläche. Es war mir so peinlich, dass alle meinen Unterrock sehen konnten. Statt mir aufzuhelfen, stand dieser unverschämte Kerl da und lachte. Dann ging er einfach weg und ließ mich auf der Tanzfläche sitzen.

Trotzdem verbrachten wir den Rest des Abends zusammen, nachdem er seine Freundin zur Straßenbahn gebracht hatte. Er hatte mehrere Freundinnen parallel zu dem Zeitpunkt, aber ich habe mich durchgesetzt, wie ich mich immer bei ihm durchgesetzt habe. Wir verabredeten uns für ein nächstes Treffen und lernten uns näher kennen.


Die erste eigenen Wohnung

Wir heirateten 1953. Gefeiert haben wir bei Freds Eltern auf der Werstener Dorfstraße, mit selbst gemachtem Kartoffelsalat von meiner Schwiegermutter. Zum Zeitpunkt unserer Hochzeit wussten wir bereits, dass wir bald zu dritt sein würden.

Es war eine schwierige Zeit. Unsere armselige Wohnung bestand aus einem Zimmer unter dem Dach, mit schrägen Wänden und einer Kochnische. Ein Badezimmer hatten wir nicht. Wasser und eine Toilette gab es eine Etage tiefer.


Eine eigene Familie

Die Möbel sind da! Endlich sind sie da. Meine ersten eigenen Möbel! Ich schließe mich in unserem Zimmer ein, öffne sämtliche Türen und Schubladen und fange an hemmungslos zu weinen.

Eine Familie! Meine eigene Familie! Und jetzt noch die schönen Möbel! Ich bin fassungslos vor Glück! Jetzt kann mich keiner mehr fort schicken. Ich bin endlich angekommen.

Es kann sich, glaube ich, keiner vorstellen, was es für mich, die Zeit ihres Lebens immer nur hin und her geschickt wurde, bedeutet hat, all diese Dinge zu haben.



2011 erzählt von Hannelore S., aufgeschrieben von Ute M., bearbeitet von Reinhard R. 2025.

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